Die Betroffene, die Wal*Mart Germany GmbH & Co. KG, ist das deutsche Tochterunternehmen des inzwischen weltweit größten Handelskonzerns. Sie betreibt auf dem deutschen Markt über 95 SB-Warenhäuser, in denen sie etwa70.000 Artikel anbietet. Im Jahr 1999 lag der Umsatz bei 5 Mrd. DM. Rund die Hälfte davon erzielt die Betroffene mit dem zum sog. Food-Segment gehörenden Teil ihres Warenangebotes.
Anfang Juni 2000 senkte die Betroffene ihre Verkaufspreise für H-Milch, die damit unter den bis dahin niedrigeren Preisen ihrer beiden marktstärksten Wettbewerber, Aldi Nord und Lidl, lagen. Diese beiden Unternehmen setzten daraufhin ihre Verkaufspreise deutlich – und zwar unter ihre eigenen Einstandspreise – herab. Dem folgte die Betroffene nicht, behielt aber ihre Verkaufspreise auch dann bei, als sie wenig später an ihren Lieferanten höhere Entgelte zahlen musste; dadurch verkaufte sie von diesem Zeitpunkt an ebenfalls H-Milch unter Einstandspreis. Nach den Feststellungen des Bundeskartellamts hat die Betroffene im Sommer 2000 auch andere Produkte – Pflanzenmargarine und Pflanzenfett sowie Zucker – unter ihren eigenen Einstandspreisen angeboten.
Gestützt auf § 20 Abs. 4 Satz 2 GWB hat das Bundeskartellamt allen drei Unternehmen am 1. September 2000 verboten, bestimmte Waren – bei der Betroffenen sind dies H-Milch, Pflanzenmargarine und Pflanzenfett sowie Zucker – unter Einstandspreis zu verkaufen. Anders als Aldi Nord und Lidl hat die Betroffene gegen dieses Verbot Beschwerde eingelegt. Der Kartellsenat des OLG Düsseldorf hat das Verbot aufgehoben. Die hiergegen eingelegte Rechtsbeschwerde des Bundeskartellamts hatte hinsichtlich der Komplexe „H-Milch“ und „Zucker“ Erfolg, während im übrigen („Pflanzenmargarine und -fett“) das Rechtsmittel zurückgewiesen worden ist.
In seiner heutigen Entscheidung hatte der Kartellsenat des Bundesgerichtshofs erstmals zur Auslegung des durch die 6. GWB-Novelle mit Wirkung zum 1. Januar 1999 neu eingefügten § 20 Abs. 4 Satz 2 GWB zu entscheiden. Er nimmt nach Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte an, nach dieser Vorschrift werde vermutet, dass ein marktmächtiges Unternehmen, welches nicht nur gelegentlich Waren unter Einstandspreis anbietet, seine kleinen und mittleren Wettbewerber unbillig behindert; diese Vermutung kann das betreffende Unternehmen dadurch ausräumen, dass es daran mitwirkt, Tatsachen festzustellen, nach welchen der Verkauf unter Einstandspreis ausnahmsweise sachlich gerechtfertigt ist. Weitergehende Voraussetzungen – etwa dass die Wettbwerbsverhältnisse spürbar beeinträchtigt werden oder dass festgestellt wird, zwischen der überlegenen Marktmacht und dem Verkauf unter Einstandspreis bestehe ein ursächlicher Zusammenhang – sind nicht erforderlich.
Nach diesen Grundsätzen war der Verkauf von Pflanzenmargarine und Pflanzenfett sachlich gerechtfertigt, weil Wettbewerber der Betroffenen durch Einwirken auf den gemeinsamen Lieferanten dafür gesorgt hatten, dass die Betroffene sich veranlasst sah, diese Produkte – für kurze Zeit, bis sie eine neue Lieferbeziehung eröffnet hatte – zu ihren alten Preisen, aber unter ihren erheblich angehobenen Einkaufspreisen anzubieten. Insofern hatte das Beschwerdegericht im Ergebnis zutreffend das Verbot aufgehoben. Bezüglich des Komplexes „Zucker“ ist dagegen der Verbotsbeschluss des Bundeskartellamts wiederhergestellt worden: Die gegenteilige Entscheidung des OLG Düsseldorf beruhte darauf, dass es – zu Unrecht – einen Verstoß gegen § 20 Abs. 4 Satz 2 GWB nur bei einer spürbaren Wettbewerbsbeeinträchtigung annehmen wollte. Das den Verkauf von H-Milch unter Einstandspreis betreffende Verbot muss das Beschwerdegericht noch einmal prüfen. Anders als es angenommen hat, kann nach dem Beschluss des Bundesgerichtshofs die Aufhebung des Verbots nicht darauf gestützt werden, dass die Betroffene nur zur Abwehr rechtswidrigen Verhaltens seiner schärfsten Konkurrenten gehandelt hat. Denn dieses Vorgehen verstärkt zu Lasten der nach dem Gesetz zu schützenden kleinen und mittleren Unternehmen die Auswirkungen des kartellrechtswidrigen Preisverhaltens ihrer Wettbewerber und kann deswegen nicht ohne weiteres sachlich gerechtfertigt sein. Damit das Beschwerdegericht prüfen kann, ob ggfs. andere rechtfertigende Gründe vorliegen oder die Betroffene keine andere Abwehrmöglichkeit hatte, ist die Sache insoweit an die Vorinstanz zurückverwiesen worden.
Beschluss v. 12. November 2002 – KVR 5/02
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